Ich möchte mich mal outen: ich bin Live-Rollenspieler. Ich laufe in mittelalterlicher Verkleidung mit anderen Verrückten durch den Wald und erlebe Abenteuer. Früher haben Medien, Psychologen, Kirchen und Politiker noch aufgeschrieen: Gefährlich! Realitätsflucht! Heute ist Realitätsflucht schon beinahe Pflicht geworden. Man betreibt sie öffentlich. Man kommt dafür sogar ins Fernsehen. Das hört sich nach „Deutschland sucht den Suppenstar“ oder ähnliche Formate an, die höchstens noch Reich-Ranickis Rache heraufbeschwören aber schon lange nicht mehr schocken können. Ich meine was ganz anderes.
Unsere Politiker leben in einer eigenen Welt. Wobei: nicht nur die Politiker. Das ganze Drum um die Politik herum ist Wahnsinn. Können Sie mir sagen, wie viele Stimmen die CDU gewonnen hat? 0,4%? Klingt gut, ich stelle die Frage aber noch mal: Können Sie mir sagen, wie viele Stimmen die CDU gewonnen hat? Stimmen. Nicht Prozente.
Mir gehen die ganzen Prozentzahlen auf den Wecker. Ich werde bombardiert mit Prozentzahlen. Ich habe das Gefühl, da gehen lauter kleine Prozentzeichen zur Wahl. Keine Wähler. So behandeln die Politiker uns momentan auch. Und jetzt für alle: Die CDU hat keine Stimmen gewonnen. Nein, die haben welche verloren. Aber wenn dauernd nur mit Prozenten durch die Gegend gewunken wird, dann kommt so was nicht rüber. Die CDU hat 0,4 Prozent gewonnen. Sie hat gleichzeitig aber 0,4% ihrer Wähler verloren. Es haben 40000 weniger CDU gewählt als letztes Mal. Anders gesagt: statistisch ist weniger also mehr. Weniger ist mehr. Wenn man die in Hessen handelnden Personen betrachtet, muss da was dran sein. Es muss doch einen Grund geben.
„Weniger ist mehr“ ist übrigens ein Oxymoron. Quasi ein Gegensatz. So was wie Papst und Pille, Politiker und Glaubwürdigkeit, SPD und Linke. Zumindest vor und während der Wahl 2008.
Noch eine Zahl: die SPD hat fast 400000 Wähler verloren. Letztes Mal hatten sie etwas über 1 Million. Im Fernsehen kommt gar nicht das Ausmaß der Pleite rüber. 15% weniger, okay… aber es sind 40% weniger Stimmen als letztes Mal.
Bei der Wahl ging es ja gar nicht mehr darum, die passende Partei für sich selbst zu wählen. Es ging von vornherein darum, welche Lügner die Regierung anführen dürfen: SPD oder CDU. Die SPD dachte sich ja: wer zuletzt lügt, lügt am besten. Leider war der Wähler da nicht so interessiert daran. Ich bin begeistert davon, dass noch immer 600000 Leute die SPD wählten. Mal ganz ehrlich: wenn in der Wirtschaft eine Firma dauernd ihre Versprechen bricht, ihre internen Streitereien an die Öffentlichkeit zerrt und durch eine katastrophale Geschäftsführung glänzt, dann erwartet man kein langes Geschäftsleben. Obwohl die Telekom oder Microsoft…
Man sollte das Ergebnis vor dem hessischen Hintergrund betrachten. die FDP jubelt ja schon: das war der Startschuss für die Bundestagswahl. So geht es weiter. Und da wären wir wieder bei der Realitätsflucht. Die Leute haben ja FDP gewählt, weil sie die CDU eh nicht verhindern konnten und lieber eine starke Partei als Kontrolleur der CDU haben wollten. Moment, stark streich ich jetzt. Sie wollten jemanden, der Koch auf die Finger klopft. Und das soll die FDP sein. Die brutalstmöglichsten Auf die Finger-Klopfer. Das passt zur FDP wie Blümchen-Sex im SadoMaso-Klub. Wobei politisch da die Rollen klar verteilt sind: Politiker Sado, Wahlvolk Maso. Es gingen 60% der Hessen zu der Wahl, obwohl sie kaum eine hatten. Da ist hohe Leidensbereitschaft vorhanden. Koch und Schäfer-Gümbel bilden praktisch den Januskopf der hessischen Politikverdrossenheit.
Die CDU hatte eigentlich schon vor der Wahl gewonnen. Der Koch hat auch alles getan, damit er gewinnt: er hat sich rausgehalten. Das hatte Auswirkungen auf das Wahlergebnis: Die Republikaner haben 12000, die NPD 2000 Stimmen verloren.
Unser CDU-Kandidat vor Ort hat mich ja doch geschorkt. Geschockt. Da hatte ich schon Brief-gewählt, und dann stellt er sich mit einer kleinen Broschüre vor. Ich hatte richtig schlechtes Gewissen. Als ich die Broschüre durchlas, wurde mir gleich wieder wohler. So neben meinen Wünschen lag ja noch nie eine Partei. Mit Ausnahme von Parteiversuchen wie Partei Bibelsuchender Christen und NPD.
Jetzt noch eine Positive Nachricht: ich glaube, die Ypsilanti ist weg. Und der Schäfer-Gümbel darf bestimmt auch wieder auf seine Hinterbank. Aber die hessische SPD wird bestimmt jemanden finden, der noch untauglicher ist. Die finden immer den größtmöglichsten Wählerabschrecker. Eichel, Ypsilanti, Schäfer-Gümbel. Immer wenn man einen Nullpunkt erreicht zu haben glaubt, definiert die SPD die Null noch tiefer neu. Die CDU braucht das nicht, die hat Koch.
Nur wenigen ausgewählten Kennern der hessischen Politik fällt auf, dass ein Name fehlt. Wer weiß es? Gerhard Bökel hieß der Mann, der direkt nach der Wahl 2003 aus unserem Gedächtnis gelöscht wurde. Hoffnung besteht also, dass Ypsilanti und Schäfer-Gümbel ähnliches wiederfährt. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Die SPD ist eine soziale Partei. Sie kümmert sich um Randgruppen und politisch gescheiterte Existenzen. Den Eichel wollte keiner mehr, da wurde er gleich Minister unter Gerhard Schröder. Da schwant einen Grausames. Ypsilanti im Bundeskabinett. Aber sie ist eine Frau. Sie kriegt bestimmt das Bildungsressort oder Familie oder so. Also nix, wo man was kaputtmachen kann. Dafür hat man ja die Männer.
Ach so, was wirklich Angst macht: als ich letzte Woche um 18 Uhr mein Autoradio quälte, kam wirklich auf allen Sendern der Obama-Antrittseid – und der war noch nicht mal richtig. Das macht mir schon Angst. Ich kann mich weder an Merkels Amtsantritt noch an Köhlers erinnern. Die kamen bestimmt auf so Hinterwaldsendern wie WDR 5. Gibt es überhaupt einen Amtseid für Präsidenten und Kanzler? Und wenn ja: wie geht er? Und wenn er dann doch nicht geht: kann man den auch wiederholen? Merkel und Kohler interessieren also nicht, unser aller amerikanischer Präsident hingegen… Vielleicht kann man damit die Politiker unter Druck setzen: wenn ihr nicht langsam mal, dann aber… ja dann importieren wir demnächst Politiker aus anderen Ländern. Garantiert zollfrei.