Zukunftsaussichten

„Frau Meier, Herr Meier, leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Wir müssen das Kind töten.“

Stille. Wie erwartet.

„Ich möchte Ihnen das begründen.“

„Wie sie wissen, müssen wir bei der Auswahl der lebenswerten Kinder die Hintergründe genau evaluieren. Wir haben neben ihren Angaben auch ihre Akten, ihre Arbeitsplätze und –aussichten sowie ihr Umfeld betrachtet. Unter Berücksichtigung aller Fakten sieht das Ergebnis wie folgt aus: Das Kind wird aufgrund sozialer Mängel und fehlender Reife der Eltern – es ist ja ihr erstes Kind – mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% eine förderungsbedürftige Schwäche schon in den folgenden drei Jahren entwickeln. Ein ordnungsgemäßer Schulbeginn mit 4 Jahren kann infolgedessen nicht garantiert werden.

Schon alleine hier möchte ich sie darauf aufmerksam machen, dass der Bundestag kurz vor der Verabschiedung eines Gesetzes darüber steht, dass die durch eine verspätete Einschulung entstehenden Volkswirtschaftlichen Kosten demnächst von den Eltern aufzubringen sind. Denken Sie da auch mal an Ihren Geldbeutel. Diese Schulden können Sie sich gar nicht leisten. Sie wären gezwungen, sich noch einen weiteren Arbeitsplatz zu besorgen und wären noch schlechter in der Lage, dass Kind zu einem wertvollen Mitmenschen und Arbeitnehmer zu erziehen.

Wollen wir in die weitere Zukunft blicken. Die Schwächen werden sich in der Schulzeit fortsetzen. Da ich für Sie keine Möglichkeit sehe, adäquaten Nachhilfeunterricht zu bezahlen, werden mit fast 100% Sicherheit entstehende Lernmängel in den Bereichen Mathematik, Deutsch und Betriebswirtschaft nicht kompensiert werden können. Infolgedessen kann ihr, ähm …“

Blättergeraschel.

„… ja, ihr Sohn höchstens die Hauptschule besuchen. Durch das vor 3 Jahren von den Sozialdemokraten eingebrachte Chancengleichheitsgesetz zur schulischen Mindestausbildung ist es ihrem Sohn glücklicherweise erlaubt, leichte, kindgerechte Arbeiten am Nachmittag auszuführen, mit dem er sich selbst das Geld für die vorgeschriebene Mindestleister-Schul-Verbesserung verdienen kann. Dadurch wird er immerhin mit 54% Wahrscheinlichkeit die Mindestanforderungen zum Abschluss der Schule erreichen, jedoch dürfte mit diesem Ergebnis und natürlich den daraus erfolgenden Zukunftsprognosen keine Arbeitsstelle in Aussicht stehen.

Noch gravierender ist, dass in der Schulzeit eine 83% Neigung zu Straftaten durchschlagen wird. Im weniger schlimmen Fall handelt es sich um Verhaltensverbrechen wie das „Sitzen von Jugendlichen in S-Bahnen und Bussen“, die sich allerdings wiederum nachteilig auf den familiären Kontostand auswirken werden. Bei einer – durch die Exzesse ihres Kind bedingten – familiären Minderernährung jedoch werden Vergehen im Bereich der Mundraub-Problematik sehr wahrscheinlich. Es ist auch nicht auszuschließen, dass das Kind in die schweren Bereiche – Randale, Aufrührertum, Diebstahl und Rauchen – abgleitet.

Wenn wir die verbrecherischen Ansätze des Kindes und die mangelnde Ausbildung sowie weitere Defizite wie eine 10% Chance zur Verwahrlosung einmal zusammenzählen, so kommen wir zu einer 70% bis 77% Wahrscheinlichkeit, dass das Kind nach dem „Gesetz zum Schutz der deutschen Leistungsfähigkeit und der deutschen Zukunftsfähigkeit“ beim Überschreiten der Vollzeitarbeitszulassungsgrenze von 14 Jahren als nicht Volkskompatibel befunden wird. Neben den ganzen gesetzlichen Konsequenzen möchte ich sie – das wird häufig vergessen – auch auf Gefühlskomplikationen aufmerksam machen. Zu dem Zeitpunkt werden Sie sich so an das Kind gewöhnt haben, dass die Eliminierung einen Schock oder zumindest einen psychisch instabilen Zustand auslösen kann. Dadurch drohen Einnahmeverluste oder sogar Arbeitsplatzverluste – was Sie sich mit dem durch das Kind eingefahrenen Kontonegativstand gar nicht leisten können. Das bedroht ihre eigene Existenz – und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes.

Obwohl ich hier sehe, dass immerhin eine 66% Chance für Herrn Müller, pardon Maier, und eine 60% Chance für Frau Maier besteht, dass das Verhältnis zum Kind zu dem Zeitpunkt – untertrieben gesagt – abgekühlt sein wird.

Frau Meyer, wollen Sie das wirklich?

Ich möchte eigentlich gar nicht mehr auf die weiteren Konsequenzen eingehen wie die 20% Wahrscheinlichkeit, dass er seinen noch nicht geborenen aber für Sie zu 76% projizierten Bruder tötet oder ihn zu Verbrechen verführt, bei denen sein Bruder statistisch gesehen zu 15% sogar umkommt? Wollen Sie das wirklich? Können Sie das verantworten?

Ich weiß es ist ein bisschen schwer für Sie, deswegen haben Sie auch drei Tage Bedenkzeit und natürlich kriegen Sie die Ergebnisse auch an ihren Heimaccount gemailt. Mal ein Wort in eigener Sache: seien Sie froh, dass sie das Problem so schnell hinter sich lassen können.

Ein lauter Aufschrei: „ABER ICH LIEBE MEIN KIND!!!“

„Oh. Äh. Warum sagen Sie das nicht gleich? Einen Moment.“

Tippen. Warten. „Aha.“

„Frau Mayer, Herr Mayer, dann sieht das vollkommen anders aus. Ihr Sohn wird mit 98% Wahrscheinlichkeit ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft. Das System merkt ihn schon mal für ein Studium der Betriebswissenschaften an der Universität in Bonn vor. Ja, schon geschehen. Da habe ich noch eine gute Nachricht: durch die günstige Prognose steht Ihnen auch eine Erhöhung des Kindergeldes um 50 Euro pro Monat zu. Mehrere potentielle Arbeitgeber haben sich auch schon gemeldet, damit können Sie locker mit einigen Zusatzeinnahmen rechnen, wenn Sie einen Vorvertrag unterschreiben. Natürlich muss ich warnen: sollte das Kind später nicht die Prognosen erfüllen, müssen Sie dieses Geld natürlich zurückzahlen.“

„Tja sehen Sie. Weil Sie den Fragebogen hier auf Seite 12 nicht richtig ausgefüllt haben, haben Sie das Leben ihres Kindes und – viel schlimmer – das Bruttosozialprodukt in Gefahr gebracht. Darauf steht im Normalfall eine Warngeld von mindestens 100 Euro, bei Ausführung der Liquidierung des Kindes hätte Sie das sogar richtig Geld gekostet, denn dann hätten Sie auch die Hälfte der Kosten, die normalerweise der Staat übernimmt, bezahlen müssen.

„So, ich danke Ihnen für ihr Gespräch und möchte Sie daran erinnern, dass nächstes Jahr um die gleiche Zeit, also zum zweiten Geburtstag, die nächste Untersuchung, ansteht. Wenn Sie noch fragen haben: Bitte gerne.“

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