Als es das erste Mal passierte, war es beinahe komisch. Er wachte auf und fröstelte. Sein erster Gedanke galt Sandra und ihrer Angewohnheit, bei offenem Fenster zu schlafen. Der zweite ging an seine Bettdecke, die er vom Bett heruntergewühlt haben müsste. Erst nach einigen Momenten wurde ihm bewußt, dass sein Bett nicht so hart war und dass alles … so fremd war. Er machte die Augen auf und blinzelte in einige Sonnenstrahlen, die zwischen Baumwipfeln hervorlugten. Er lag im Wald. Nackt. Und ein wenig dreckig unter den Nägeln und an den Armen.
Als die Verwunderung und etwas Panik abgeebbt waren, wollte er zunächst einfach nach Hause gehen. Der Wald war ihm vertraut, war er doch nahe der kleinen Ortschaft Prün, in der er wohnte. Dann wurde ihm bewußt, dass seine Nachbarn das vielleicht nicht so komisch finden würden. Er müsste bis zum Abend warten, um eine Chance zu erhalten, unbemerkt nach Hause zu kommen. Dann aber würden seine Frau und seine Kollegen sich etwas wundern. Er galt als zuverlässig in der Firma Meier, in der er seine Buchhalterdienste verrichtete. Außerdem war ihm kalt, einen ganzen Tag in der Kälte könnte er nicht aushalten.
Glücklicherweise kam ihm noch ein Einfall. Er ging zum nahegelegenen See und wartete darauf, dass ein Spaziergänger vorbeikam. Dann ging er vorsichtig ins Wasser. Jetzt müsste er ihm nur erklären, dass er geschwommen war und Kinder seine Kleidung geklaut hatten. Doch: das Wasser war kälter als geahnt. Schon nach wenigen Sekunden begannen seine Zähne zu klappern. Ein toller Plan! Er rief dem Spaziergänger ein lautes „Hilfe“ zu. Der erhöhte sein Tempo und das seines Hundes. Nach ein paar Sekunden rief der andere zurück: „Was ist denn los?“ und kurz darauf: „Schorsch, bist Du das?“ Der Wanderer war kein anderer als Josef, vom Beruf Förster und nebenbei ein guter Freund.
Nach nur wenigen Momenten war Schorsch aus dem Wasser und trug zum Schutz gegen die Kälte eine Försterjacke. An die Lüge mit den geklauten Kleidungsstücken war natürlich nicht mehr zu denken. Josef vermutete noch, dass vielleicht eine durchzechte Nacht schuld sein könnte, doch Schorsch war sich sicher, um 11 ins Bett gegangen zu sein, ohne Besäufnis. Wahrscheinlich hast Du einfach Schlafgewandelt, meinte der Förster.
Schorsch war nicht beruhigt. Auch in den nächsten Tagen nicht. Schlafwandeln über mehrere Kilometer, dabei den Schlafanzug verlieren – das klang nicht beruhigend. Doch es passierte nichts weiteres. Eine Woche, zwei… Schorsch begann die Sache abzuhaken, allerdings wurde er eine gewisse Nervosität – über seine typische, leichte Nervosität hinaus – nicht los. Auch seine Frau war nicht begeistert. „Du bist ja noch schlimmer als sonst“ meckerte Sandra. Glücklicherweise hatte sie nichts bemerkt. Sie schlief noch, als er nach Hause kam, und Josef war der Hüter des Notschlüssels für ihr Haus – für den Fall, dass Sandra oder Schorsch ihre Schlüssel verlieren.
Dann, einen Monat später, wachte er wieder im Wald auf. An einer anderen Stelle zwar, aber unweit der ersten. Doch dieses Mal war es noch dunkel. Und dieses Mal war er nicht einfach nur dreckig: Blutflecken befanden sich auf seinen Armen, auch in den Mundwinkeln. Er wusch sich im See. Im Schutz der Dunkelheit schlich er zum Försterhaus und versteckte sich im Schuppen. Erst am nächsten Morgen – und einer langen, erst am Ende mit Schlaf gesegneten Nacht – offenbarte er sich seinem Freund. Der war beunruhigt.
„Heute nacht muss der Fuchs mir ein Huhn gestohlen haben. Seltsam, der geht normalerweise nicht so weit ans Haus. Außerdem sind die Spuren eher unüblich. Und mein Hund hat auch nicht angeschlagen. Na ja, bei Vollmond passieren die merkwürdigsten Dinge, das merkst Du ja auch gerade.“
Beim dritten Mal war Schorsch schon beinahe ein Wrack. Schon zwei Tage vor Vollmond konnte er nicht schlafen. Seine Frau erschien ihm gereizt, doch sie versuchte ihn eigentlich zu beruhigen. Noch immer wusste sie von nix. „Hier, nimm endlich deinen Tee“ sagte sie zu ihm, als er eine halbe Stunde vor Mitternacht noch immer am Küchentisch saß, die Augen kaum offenhaltend, und doch gewillt, die ganze Nacht wachzubleiben. „Wir müssen mal miteinander reden, wenn Du etwas ausgeschlafener bist.“
Er wusste nicht, wann und wie schnell er eingeschlafen war. Wieder kam er im Wald zu sich. Dieses Mal hatte er immerhin vorgesorgt: ein Bündel mit Kleidungsstücken hatte er in einem hohlen Baum versteckt, den er noch aus der Kindheit kannte. Doch wieder musste er sich von Blutspuren reinigen, und der Weg zu Fuß nach Hause war auch nicht der angenehmste. Vor allem zum Schluß: seine Frau empfing ihn, und er musste ihr erklären, was er ausserhalb des Hauses suchte. Sie war seiner Geschichte – „Schlafwandeln, ha“ – nicht besonders aufgeschlossen gegenüber. Sandra sprach sogar davon, wie sehr sein Verhalten sie mitnahm, und dass sie sich etwas überlegen würde, wenn er nicht… doch sie war einverstanden, dass er zu einem Psychologen ging.
Dem Psychologen begegnete er erst einmal mit der Skepsis, die man Vertretern dieses Berufs entgegenbringt. Doch in der zweiten Sitzung – nach einer weiteren Predigt seiner Frau – erzählte er ihm alles, einschliesslich des Blutes. Der Psychologe winkte ab: „Sie halten sich wohl für einen Werwolf, was? Nackt aufwachen, Blut… Hören sie mal gut zu: Sie waren in einer Streßsituation, das Blut bedeutet nichts. Das können sie sich einfach eingebildet haben. Wahrscheinlich sind sie ein schwerer Schlafwandler, wobei irgendwas sie in diesen Wald zieht. Ich schicke sie erstmal in eine Schlafklinik.“ Die nächsten drei Vollmonde – und die Tage drumherum – verbrachte er in einer Schlafklinik. Nichts passierte. Der Doktor meinte zwar, dass er einen etwas gestörten Schlaf hätte und etwas gegen seinen Streß tun sollte, doch ansonsten sei nichts zu beanstanden. Er war ein bisschen beruhigter. Aber nicht viel. Dennoch: 3 Monate ohne Anfall von Schlafwandel.
Einen Vollmond später wachte er wieder im Wald auf. Immerhin dieses Mal ohne Blutspuren, aber das bemerkte er kaum. Denn etwas in ihm war erwacht. Er schrie die Bäume an, verfluchte sie. Er verfluchte sein Leben, er heulte und schnaubte – bis ihm aufging, dass genau so sich ein Werwolf verhalten müsste. Dann lehnte er sich an einen Baum und schluchzte, unfähig, über seine Lage nachzudenken. Er bemerkte kaum, als zwei Leute neben ihm auftauchten. Erst als sie ihn ansprachen: „Können wir Ihnen irgendwie helfen?“ starrte er sie an. „Haben Sie irgendeinen Grund für das, was sie hier tun?“ fragte der jüngere. Schorsch reagierte gereizt: „Klar, ich mach das hier gerne.“ Die beiden Polizisten – den um solche handelte es sich – gaben ihm eine alte Decke, dann fuhren sie ihn nach Hause. Mit „Sie müssen natürlich mit einer Anzeige rechnen“ verabschiedeten sie sich.
Die nächste Zeit war die Hölle. Der Psychologe war erstmal ratlos, die Nachbarn, der Chef und Sandra – alle hatten natürlich von der Anzeige und dem Anzeigegrund erfahren – machten ihm die Höhle heiss. „Natürlich schätzen wir Sie, jedoch – ein Mann in ihrer Position“ hatte der Chef gesagt und ihm die Prokura vorerst entzogen. „Wir alle haben mal solche Phasen. Nehmen Sie sich doch etwas frei. Sie haben ja noch genug Urlaub. Müller kann ihre Arbeiten ohne Probleme übernehmen.“ Sandra war noch etwas drastischer, sie sprach über die Scheidung, wenn er nicht bald etwas unternahm.
Er bat Josef, das nächste Mal auf ihn aufzupassen. Und Josef tat das. Er blieb die ganze Zeit bei ihm. Abends spielten sie Skat, tranken ein wenig… und irgendwann musste Schorsch wieder eingeschlafen sein. Aufgeweckt wurde er von Josef – einem etwas blassen Josef. „War nicht leicht, dich wiederzufinden. Du bist ziemlich schnell gewesen.“ Dann erzählte er: wie Schorsch auf dem Sofa eingeschlafen war, wie er ein paar Minuten später aufgestanden und in Richtung Wald gelaufen war – „ich dachte erst, du wolltest dir nur ein Glas Wasser holen, bis du plötzlich die Tür geöffnet hast“ -, wie er im Wald erst die Spur verloren und dann die ausgezogenen – „eigentlich eher ausgerissenen“ – Sachen gefunden hatte, und schliesslich – und hier stockte der Bericht – wie Josef den gerissenen Hasen gefunden hatte, und nur einige Meter entfernt den schlafenden Schorsch. „Ich habe nicht gedacht, dass ein Mensch so etwas tun könnte. Du brauchst professionelle Hilfe.“ Er gab ihm einige Anziehsachen, dann vergrub er den Hasen.
Josef fuhr den vor Panik kaum noch zum Denken fähigen Schorsch direkt zum Psychologen. Dieser sprach von einem Werwolfkomplex – eine seltene Krankheit sicherlich, aber nichts sei unheilbar. Die nächsten 4 Wochen lang verbrachte Schorsch mindestens zwei Stunden täglich in der Praxis. Sonst hatte er kaum etwas zu tun. Der Chef hatte ihm unbezahlten Urlaub bewilligt- „und danach machen sie erstmal leichte Arbeit“ – , Sandra war 3 Wochen lang zu ihrer Mutter gefahren – „ich brauche etwas Zeit, um unsere Beziehung zu überdenken“ – danach jedoch wiedergekommen. Für eine letzte Chance. Die Nachbarn mieden ihn seit der Anzeige. Er fühlte sich alleingelassen.
Doch er hatte immerhin Josef, der auch beim nächsten Mal die Wache übernehmen wollte. Das nächste Mal endete ungewohnt. Der Wald bewegte sich. Vielmehr: er lag auf etwas, dass sich bewegte. Er drehte und verrenkte sich, doch das war nicht einfach: irgendwie war er an dem sich bewegenden Teil befestigt. Er sah Josef, und er sah Polizisten. Ausserdem waren da Männer in weissen Anzügen, die seine Bahre trugen. Er fragte nicht. Er hörte nur. Und dass, was er hörte, genügte, um ihn vollends aus der Vernunft zu reissen. Er sollte Sandra gebissen haben, schwer gebissen haben, dann in den Wald gestürmt sein, wo man nur noch die blutigen Reste mehrere Tiere gefunden hatte. Es war gewiss: er war ein Werwolf.
Die nächste Zeit – Tage, Wochen, Monate, vielleicht Jahre – vergingen wie ihm Flug. Wenn man ein Werwolf ist, verschwimmt die zeitliche Bedeutung. Wenn man unter schweren Medikamenten lebt, auch. Nur einmal hatte er einen lichten Augenblick. Als ein anderer Insasse seines neuen Heims – er würde von Bau sprechen, wenn er noch des Sprechens fähig gewesen wäre – anfing zu randalieren, bekam dieser von den Pflegern eine Spritze. Fast augenblicklich sackte er zusammen und konnte leicht abtransportiert werden. „Wirkt wie K.o-Tropfen, schnell und schadlos, der merkt nix mehr“ sagte einer der Pfleger. Da lachte Schorsch. Er lachte und lachte, bis das Lachen nur noch ein hysterisches Kreischen war.
Bis sie kamen und ihm eine Spritze gaben.