Leben

„Das menschliche Leben ist ein Stückwerk“ sprach der Priester. „Vieles passt nicht zusammen. Manche Stellen möchte man auch schwarz überstreichen.“

„Erzähl mir vom Himmel“, sagte das Kind. „Oder davon, dass es ihn nicht gibt.“

„War er ein Held oder ein Meuterer?“ fragte ein Beisteher. „War er der Schüler oder der Lehrer?“

„Sein Leben war kein Butterbrot wert“ sagte der Moralische. „Vorurteile bestimmen die Welt“ antwortete der Verstehende.

„Ist es schlimmer, wenn ein junger Mensch stirbt oder ein Alter?“ fragte der Fragende.

„Die Kirche lebt von der Naivität“ behauptete der Atheist. „Die Politik interessiert sich nicht für Menschen“ sagte der Wähler. „Das Leben macht doch keinen Sinn“, sagte der Realist.

„War er ein Zwerg oder ein Riese?“ fragte der Beisteher. „War er die Brutstätte oder der Tod?“

„Sein Leben war brutal und voller Grausamkeiten“, sagte der Moralische. „Doch war er Opfer oder Täter?“ entgegnete der Verstehende. „Er kannte noch den Skrupel, doch er konnte manche Gewissenbisse verwinden“ sagte der Wissende. „Er trug immer eine Maske, man muss unter die Maske schauen“ sprache der noch mehr Wissende.

„Wo gehen die kleinen Kinder hin, die gestorben sind?“ fragte das Kind. „Getaufte Kinder kommen in den Himmel“ sagte der Glaubende.

„Was zählt mehr? Ein Mensch oder die Welt?“ fragte der Philosoph.

Der Stille war enttäuscht.

„War er Jude oder Schweizer?“ fragte der Beisteher. „War er Zeitkritik oder Schauerroman?“

„Wo gehen die nicht getauften hin?“ fragte das Kind.

„War er die Nacht oder der Tag?“ fragte der Beisteher. „War er Prosa oder Gedicht?“

„Es macht auf mich den Eindruck, als wäre er ein gewöhnlicher Mensch“ sagte ein Passant. „Doch hatte er ein Leben mit vielen Ereignissen“ fügte ein anderer dazu. „Jeder Mensch ist gewöhnlich, doch jeder Mensch ist ungewöhnlich“ orakelte der Philosoph.

„War er Er oder Sie?“ fragte der Beisteher. „War er Erfindung oder Realität?“

Der Priester schloss das Buch.

Der Tote stand auf und ging davon. Er wurde wieder zum Ich-Erzähler seiner Geschichte. Zurück blieb die Trauergemeinde.

Der Chor sang einen Kanon.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.