„Papa! Wasn das fürn Bild?“
Kinder können so grausam sein. Papa schluckt. Wissenshungrige Kinder sind die schlimmsten. Schnell zieht er den historischen Kontext und das spärliche Wissen zu einem ganzen zusammen.
„Das ist ein Bild, dass ein Stück Geschichte zeigt. Dieser Herr in der Mitte des Bildes ist ein Politiker, der damals in Deutschland regierte. Damals war das ein bedeutender Staat Europas. Während er noch jubelte, begann der grosse Aufstand. Ich glaube, es begann mit einem Streik der Ketchuphersteller. Rechts das muss der Vertreter der Arbeiterschaft sein. Die Dame war die Werbefigur für den Ketchup. Und der Wagen: damit wurde der Ketchup transportiert.“
Er ist erleichtert, so schnell eine Erklärung gefunden zu haben. Für einen Neunjährigen reicht diese wohl auch aus.
„Ich möchte sie ja ungerne stören“, sagt ein Herr neben ihm. Er gehörte zu einer Gruppe von 3 älteren Herren, die würdevoll gekleidet und mit ebensolchem Blick die Kunsthalle in intellektuellen Besitz nahmen. „Ich möchte sie darauf hinweisen, dass ihre Aussagen leider nicht zu diesem Bild passen. Sehen Sie, dieses Bild gehört unverkennbar zur enzymopologischen Phase dieses Künstlers, leider nicht seine beste. Der Ketchup, der das Bild überragt, ist das Sinnbild für die Liebe, die langsam aber ergiebig sich über den geliebten Anführer ergiesst. Mahnend dazu der Blick der Muse der Arbeit. Der Hund wiederum hingegen ist die Versinnbildlichung des Gegensatzes zwischen Axiom und Dekaration. Im Hintergrund das Haus stellt die verborgene Verheissung der Universalität da. Die Frau mit der Kerze wiederum ist sehr eindeutig. Trägt sie nicht das Phallussymbol, das Zeichen für den ewigen Kreislauf, der auch durch den Wagen verstärkt wird?“
Der Vater schluckt wieder. Es ist nicht schön, vor seinem Kind blamiert zu werden.
„Wenn ich mich eben einmischen darf“ spricht der Zweite. „Ich muss sie leider in einigen Punkten korrigieren. Natürlich ist der historische Kontext einzubeziehen. Darf ich Sie an den grossen Krieg erinnern? Der Ketchup ist rot, genauso wie das Blut der Soldaten, die im Krieg gefallen sind. Rechts sehen sie einen grossen General, der jedoch bildlich auf den Hund gekommen ist. Links ist das Endziel: die Dame Freiheit. Der Wagen wiederum transportiert die Leichen ab, die Leichenhalle mit dem grossen Schlot sehen Sie im Hintergrund.“
Der Vater ist beeindruckt.
„Ach Quatsch“ meldet sich der Dritte zu Wort. „Das ist doch vom Liersch. Der war einfach nur besoffen und hat Dinge zusammengeklebt. Ich habe ein Buch über ihn. Das steht alles drin. Auch wie er den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Da trug er einen Damenhut.“
Der Vater zieht langsam und konsterniert seinen Sohn mit sich. Schnell und scheinbar unbemerkt biegen sie um die Ecke. Die drei älteren Herren bleiben vor dem Bild stehen. Dann beginnen sie wie auf Kommando zu grinsen. Ein Lachen können sie sich jedoch verwehren. Man hat ja Stil. Auch wenn man gerade vollkommenen Blödsinn geredet hat.
Von ferne hören sie: „Papa, wasn das fürn Bild.“