Kelpie

Ein langer Tag neigte sich dem Ende zu. Das schwache, rote Rund der Sonnenscheibe, tagsüber hinter den Wolken versteckt, wurde noch einmal sichtbar, bevor sie der Streitwagen des Einen vom Himmel zog. Der Mond, sie sehnsüchtig verfolgend wie ein treuer Hund oder ein verlassener Liebhaber, doch niemals sie einholend, übernahm die Herrschaft über den Himmel. So wie er es jede Nacht tat seit Anbeginn der Zeit, so wie er es immer tun wird bis zum Vergehen der Zeit.

Er war wieder geschrumpft zu einer schmalen Sichel, und schon bald wäre er verschwunden, das war klar; doch würde er wiederkehren und wieder zu vollkommener Größe aufwachsen, denn das war ihm vorbestimmt.

In der Ferne, doch weithin zu hören, erklang aus einem Dudelsack eine fremde, traurige Weise. Gewiß war dort ein Dorf oder wenigstens ein Gehöft. Dort saßen alle zusammen in dieser kalten Nacht, an wärmenden Feuer und bei erwärmenden Geschichten. Speis und Trank sollten nicht fehlen, wo sie jetzt eng zusammen saßen. Einige Kinder schliefen wahrscheinlich schon in den Armen ihrer Mütter, doch keiner wollte die Runde verlassen.

Ebenso leise erklang aus entgegengesetzter Richtung das Heulen der grauen Wölfe, die sich zur nächtlichen Jagd versammelten. Vielleicht war unter ihnen auch ein Mann des Zaubers, der ein Fell sich überwarf, um mit ihnen, als einer von ihnen zur Jagd aufzubrechen. Wer weiß?

Nur wenige waren in solch einer Nacht unterwegs, in denen der Wind die kalte Luft aus dem Westen brachte. In denen immer wieder feine Regentropfen aus dem Himmel auf die Felder, Wälder und Wege herabfielen. Und die wenigen, die durch ein unschönes Schicksal ins Freie getrieben wurden, beeilten sich, schnellstens einen Unterschlupf zu erreichen: einen Hof, auf dem sie von freundlichen Gastgebern ans Feuer gebeten wurden, oder eine Scheune, in denen sie wenigstens etwas Ruhe finden konnten vor Regen und Kälte.

Auch der kleingewachsene Mann, der dem Wind entgegen die Straße entlangwanderte, tat große Schritte. Aber ihn lockte kein nahes oder fernes Ziel. Höfe und Dörfer waren weit entfernt, als daß er sie noch vor der Mitte der Nacht erreichen konnte. Und niemand hätte ihn aufgenommen, denn er gehörte zu denen, die vom Volke ausgestoßen waren.

Sein Name war Rod, Roddy McDonughue, doch nur wenige kannten ihn bei Namen, und die meisten von ihnen würden nie mehr von ihm sprechen können. Denn das Leben auf der Straße war rauh, und ein strenger Winter brachte vielen von denen, die ihm gleich waren, den Tod. Sein Leben, das einsame Leben auf den Straßen und Wegen, hatte er sich wahrlich nicht ausgesucht.

Schon als kleines Kind haßte er die Wege, auf denen er mit seinem Vater schritt – seine Mutter hatte er nie kennengelernt. Gestorben wäre sie bei seiner Geburt, wurde ihm erzählt. Manchmal hatte er damals geträumt davon, daß er in Wahrheit geraubt worden war durch seinen Vater, und daß er ein Prinz war, oder eines reichen Händlers Sohn. Doch als er älter wurde, verblaßten die Träume.

Er haßte die Wege und Straßen, den Schmutz und das Elend, und sie haßten ihn. Aber sie waren bestimmt für ihn, und er für sie. Gerne hätte er sich in einem der kleinen Dörfer angesiedelt, hätte eine kleine Hütte gebaut oder wenigstens eine Höhle am Rande bezogen. Doch niemand wollte ihn zum Nachbarn haben.

Die Gedanken vergingen. Sein einziges Ziel war das Leben. Nichtswürdig, nichts wert, und doch zu erhalten. Hart kämpfte er gegen die Kälte, wie häufig hatte er das getan – wann würde es sein Ende sein. Der mit den scharfen Dolchen des Regens gespickte Wind brannte ihm entgegen, machte seine Zähne zittern. Seine kurzen Beine schmerzten, seine plattgelaufenen Füße brannten wie Feuer. Hatten sie auch diesen Tag zu viele Meilen zurückgelegt, viele Meilen auf einer Strecke, deren Ziel nicht war.

Dickflüssige Tropfen rannen aus der Nase, über den Mund entlang. Doch der Mühe nicht wert, sie zu verwischen. Seine Kehle reizte, und rotes Blut spie er auf die Straße, wie so häufig in letzter Zeit. Mochte dieser Tag ihm den Tod bringen oder der nächste, kommen würde der Seelenwächter. Ein schneller, gnädiger Tod, so hoffte er; doch auch dieses mag einem Kupferstecher nicht vergönnt sein.

Seine Linie würde aussterben mit ihm. Kinder hatte er keine gezeugt, und das war besser so. Der Fluch seiner Familie, der Fluch der Straße würde mit ihm sterben. Schrecklich mochte das Ende seines Blutes sein, sein Tod. Andere waren gestorben, mit dem Blut in der Kehle, dem Bersten der Lungen gestorben. Bald würde er zu geschwächt sein, um etwas Eßbares zu sich zu nehmen. Über Tage würde er im Graben der Straße liegen, unbeachtet, wie immer. Bald – morgen, in einer Woche, in einem Mond, einem Jahr? Bald.

Mühsam quälte er sich. Der Tod mochte sicher sein, doch der Mensch hängt am Leben. Seine Augen schlossen sich, doch stetig und stolpernd fanden die Beine ihren Weg. Wie lange er wanderte? Er wußte es nicht.

Im Gehen wirrten seine Gedanken. Sein Geist zeigte ihm Kinder, die ihn bewarfen mit faulem Obst. Er sah Männer, die ihn verspotteten. Warum nur, warum? War es recht so? Manchmal glaubte er es. Wenn er einsam war. Und er war fast immer einsam.

Plötzlich öffneten sich die Augen wieder. Seine Ohren hatten ein Geräusch gehört wie nie zuvor. Ein feuriges Schnauben. Das Schnauben eines heißblütigen Pferdes, eines Pferdes, wie er noch nie ein Pferd gesehen hatte. Er traute seinen Augen nicht. Sechs Fuß hoch, wenn nicht höher, viel höher. Ein glänzendes Fell, glänzend schwarz, nicht die Schwärze der Nacht, sondern eine edle Schwärze, eine reine Schwärze. Kostbarer sah es aus als alles, was er gesehen hatte. Und noch viel weniger Kostbares hatte man davongetragen, versteckt, wenn er gekommen war! Selbst gewöhnliche Pferde hatte man nie in seine Nähe gelassen, vielleicht aus der Angst heraus, sein Elend und seine Krankheit würden sich übertragen auf das Tier. Nur Ackergäule von armen Bauern hatte er je berührt, und diese waren beinahe so elend gewesen wie er selbst.

Doch da war es, das Wesen wie aus einem Traum. Nur nicht zu laut sein. Nicht verschrecken! Doch es schien weder Abscheu noch Furcht zu empfinden, sie kam heran, sie kam zu ihm, die Königin der Pferde zum Ausgestoßenen der Menschheit. Der Alte berührte das Pferd, seine Hand fuhr durch das glänzende, schwarze, warme Fell, ein Fell wie gemacht aus den Haaren der schönsten Frauen, seidig und wertvoll. Wertvoller als die teuersten Stoffe aus den Landen tief im Süden und Osten, in denen nur wenige Männer Albas je gewesen waren. Doch Roddy hatte schon einmal einen Mann des fremden Volkes gesehen, einen Weltenreisenden, wie er selbst sich nannte. Dieser hatte keine Furcht und keine Abscheu besessen vor dem Landstreicher. Seine Kleidung hatte geglänzt wie das Gewand eines Königs, doch bei weitem nicht wie das Fell des Tieres vor dem schwachen Licht des Mondes, der zaghaft hinter einer entfernten Wolke hervorlugte.

Temperamentvoll blies die Stude heißen Dampf aus den Nüstern. Sagte es „Worauf wartest du? Steig auf, laß uns über die Straße fliegen, geschwinder als jeder Vogel, so schnell, daß wir selbst den Mond einholen und die Sonne erreichen können.“ ?

Doch noch immer stand der kleine Mann vor dem so riesigen Tier, ungläubig, schüchtern gar. Er blickte in die großen, schwarzen Augen, so undurchdringlich, daß es seinen Blick doch abwenden mußte.

Da lächelte das Tier, fürwahr lächelte es wie ein Mensch, freundlich tat es die letzte Aufforderung. Der gewaltige, buschige Schweif wedelte, wie man es von einem Hund erwartete, nicht von diesem Edelroß. Wie ein Hund, der freudig sein Herrchen begrüßte, mit gespitzten Ohren, wartend auf ein Kommando. Auf einen Befehl des Landstreichers. Sollte er der Herr über ein Tier sein, daß selbst die Tierwelt beherrschen mußte?

Endlich faßte er den Beschluß, er trat an die Seite des Tieres – doch es war riesig, wie ein Berg ragte es auf vor dem kleinen Menschen. Nie würde er es besteigen, außer … Da geschah das Wunder, er saß plötzlich auf dem Rücken des Tieres, als hätte dieses ihm geholfen. Doch er konnte nicht sagen, wie es geschehen war.

Da saß er, ein Mann hoch zu Roß, nun mehr ein Herrscher denn ein Bettler. Kein Herrscher eines noch so großen Clans könnte so ein Tier besitzen. Er, der sich keine klapprige Mähre, nicht einmal einen alten, fast zahnlosen Esel hätte leisten können, er besaß ein Tier, das einem König gebührt hätte – doch Könige gab es im wilden Alba nicht mehr. Ein Paar, wie es die Welt nicht gesehen hatte. Der Herrscher der Pferde trug denjenigen, den selbst andere Hausierer verspotteten, dessen einziger Besitz die armselige Kleidung war, die er am Leibe trug.

Langsam verlor das Pferd seine Ruhe. Es trippelte wie einer der alten Helden, wenn das Schlachtzeichen nicht gegeben war, trippelte auf der Stelle, den Befehl abwartend. „Laß mich laufen. Laß mich rennen. Laß mich galoppieren, wohin auch immer, der Freude und dem Stolz entgegen, über die Hügel und noch weit darüber hinaus.

Niemals war er je geritten, niemals hatte er überhaupt gesessen auf einem Tier, doch es war ein großer Zauber in der Stute: er wußte, was er tun sollte, er wußte, wie man mit ihr umzugehen hatte. Sanft strich er noch einmal über die üppige Mähne, verträumt, wie in Trance, dann schließlich drückte er seine Hacken sanft an den Körper des Tieres.

Und das war das Zeichen! Sie begann zu laufen, sie lief, als hätte sie seit Unendlichkeiten nicht laufen dürfen. Die Hufe trommelten auf dem Boden, auf den matschigen Boden, doch flog sie so schnell über diesen, daß kein Dreck an ihrem Fell hätte kleben können. Schneller, schneller, reite schneller! Überhole die Luft und das Leben, die Zeit und das Sein! Ein schneller Vogel an einem sonnigen Tag hätte nicht folgen können, kein Pfeil, der gerade erst den Bogen verlassen hatte. Nicht einmal der Regen berührte sie, denn noch schneller als die Tropfen war die Stute aus reiner Schönheit.

Der Wind heulte laut und noch lauter, doch sie waren schneller als dieser, und er störte Roß und Reiter nicht. Die Grashalme am Wegesrand zitterten, die Bäume neigten ihre Köpfe in stiller Ehrfurcht. Die Dunkelheit war fast undurchdringlich, hatte der Mond sich doch wieder verzogen, doch das Pferd sah auch das kleinste Hindernis, so, als hätte es die Augen einer Katze, die leuchtenden Augen.

Hoch und nieder ging es auf dem Rücken des Rosses, auf und ab, und doch schien es dem alten Mann, als schwebte das Tier über dem Weg. Er spürte den Aufprall der Hufe nicht, er hörte ihn nun nicht mehr wie anfangs. So mochte sich der Held fühlen, der auf dem Götterroß dem Himmel entgegenritt.

„Hey, Hey“ schrie er, jauchzte er. Seine Herausforderung stieß er dem Wind entgegen, doch dieser wart feige und nahm diese nicht an. Immer noch schneller wurden sie, als könnten sie das ganze Land in nur einem Tag durchreiten, oder sogar noch schneller. Das schmutzige, fettige Haar des Landstreichers wehte schon genauso wie die volle Mähne des Tieres, zwei Fahnen gleich, die sie weithin ankündigten, den Botschafter der Freude auf dem Schlachtroß der Geschwindigkeit.

Sie jagten über Stock und Stein, sie jagten schneller als der Adler. Durch kleine Wälder, in denen mächtige Bäume ihnen Platz machten, durch kleine Senken ebenso wie über die Höhen, immer in die Richtung, aus der die Sonne nie scheint, auf die hohen Berge Albas zu.

Noch immer jauchzte der Wanderer. Nie zuvor hatte er so eine Freude empfunden, nie hatte sein Gesicht so freundlich geblickt. Er jubelte und lachte für sich und nur für sich, und für das Pferd, seinen prächtigen Schwarzen. „Ja, ja“ schrie er, „möge dieser Augenblick nie vergehen! Das Leben eines Menschen ist mühsam und eines Tages muß es vergehen, doch nun ist die Zeit zum Genießen, endlich, nach vielen Jahren. Welt, du bist doch schön!“

Schon begann in ihm jeglicher Sinn für Stunden, für die Welt, für alles zu verblassen…


Doch plötzlich kamen ihm andere Gedanken, etwas wunderte ihn. Es mußten doch schon Stunden vergangen sein – oder doch nur Minuten? Sie hatten eine lange Strecke hinter sich gebracht, er mußte in einer Gegend sein, die er noch nie besucht hatte, doch das Tier zeigte kein Zeichen von Ermüdung. Jetzt flog es über eine löchrige Straße, einem Ziel zu, welches Ziel des Pferdes war und nicht sein eigenes.

Konnte man die Stute stoppen? Wie konnte man die Stute stoppen? Er zog ihr sanft an der Mähne, doch sie galoppierte einfach weiter. Er klopfte ihr an den Hals, doch hatte dieses keine Wirkung. Nicht einmal, als er mit seinen schwachen Fäusten versuchte, auf dem breiten Rücken zu trommeln, auf den langen Hals und schließlich sogar auf das mächtige Haupt – die Stute war nicht zu irritieren auf seinem Weg, sie hielt nicht an in ihrer Raserei.

Angst stieg auf in ihm. War das Tier nicht der Natur entsprungen? Kein Pferd konnte so sein wie dieses. Wie sollte er den breiten Rücken verlassen? Sollte er springen? Doch bei dieser Geschwindigkeit wäre sein Rückgrat zersprungen bei dem Aufprall. Es blieb ihm nichts als die Hoffnung, es würde irgendwann zum Stehen kommen.

Nun näherten sie sich einem großen See, an dem er nie gewesen war, geschweige, daß er davon je gehört hätte. Noch nie hatte er dermaßen verkrüppelte Bäume gesehen, Bäume wie riesige Skelette, die an der Seite des Sees standen. Niemals war Wasser so trüb und schwarz und stinkend gewesen. Der Mond wagte wieder einen schnellen Blick, doch spiegelte er sich nicht in dem See, und so verschwand er sofort wieder, als wäre er beleidigt und gekränkt. Dann jedoch kam er wieder, als würde ihn die Szene interessieren, der Alte und die Stute auf dem Weg zum tiefen See.

Tiere waren an diesem Wasser nicht zu erwarten, und in den letzten Minuten hatte Roddy kein einziges gehört, nicht mal die nächtlichen Jäger, die zu dieser Stunde zu erwarten wären. Nicht einmal ein kleines Insekt traute sich nahe diesem finsteren Tümpel.


Panik ergriff ihn! Sollte er springen? Alle Knochen würden bersten und doch – ein schnelles Ende wäre es, ein rascher Tod. Keine bösen Überraschungen, keine Angst mehr.

Doch er hielt sich auf dem Rücken der Stute. Wovor sollte er den Angst haben? Vor einem Tier, fürwahr einem Tier, wie es wohl keines gab, doch halt nur ein Tier – oder? Irgendwann mußte dieses wilde Geschöpf stehenbleiben, mußte grasen oder ruhen. Dann würde er absteigen können, und ein Nachtlager suchen, irgendeinen Unterschlupf vielleicht in irgendeinem Dornbusch, wenn es sein mußte. Und dann: nie wieder ein Reittier besteigen, weder den störrischen Esel eines Bauern noch das Roß eines Edelmanns, falls einer ihm dieses anbieten würde (was jedoch sehr unwahrscheinlich war). Einmal und nie wieder, einmal und kein weiteres Mal. Reiten sollten doch andere, nicht er.

Sie näherten sich dem Dreckgewässer, oder kam der See ihnen nahe? Beinahe schien es, als würde er sie anziehen, Roß ebenso wie Reiter. Jetzt stieg die Angst wieder, doch sofort beruhigte er sich. Das Tier wollte trinken! Es würde halten, um sich zu stärken. Warum es dieses Brackwasser nahm, verwunderte ihn, doch sollte dies egal sein. Hauptsache, er mochte sich endlich trennen von ihr, dieser Stute mit dem Aussehen des Himmels und dem Temperament der Hölle. Hoffentlich hatte er dann einmal Glück, er hoffte auf eine Quelle in der Nähe, denn diese Oase des Schlamms konnte noch nicht mal ihn locken. Er hatte schlechtes Wasser getrunken, wenn es sein mußte – doch noch nie solch schwarze Brühe.

Doch was geschah nun? Das Pferd hielt nicht, es lief weiter! Wassertropfen stoben auf, Wasserfontänen unter den Tritten des Tieres, als ob ein unterirdischer Vulkan ausgebrochen war und das Wasser über ihm Meter in die Luft aufschoß. Wie von Tollwut und Raserei gepackt raste die Stute in das schmutzige Wasser, als könne es nicht entscheiden zwischen festen Boden und nassem Untergrund, als glaubte es, auch über den See laufen zu können – doch das Wasser bewies das Gegenteil.

Langsamer wurde die Stute im Wasser, doch immer noch sehr schnell. Schnell sogen sich die Lumpen, das Hemd und die Hose des Landstreichers, mit dem Naß voll. Am Bein des Landstreichers kribbelte es, doch das ignorierte er, denn er machte sich zum Sprung bereit. Hoffentlich könnte er das Wasser, das die Beine des Tieres schon zur Hälfte umhüllte, überhaupt verlassen. Niemals hatte er Schwimmen gelernt, immer hatte er Wasser gehaßt, nie für etwas anderes gebraucht als zum Trinken – und selbst das nur dann, wenn er nichts Besseres hatte finden können. Zu seinem Leidwesen war dieses zu oft der Fall gewesen. Was würde er für eine Flasche Whisky tun!

Nun ließ er sich fallen, er stieß sich sogar ab mit den Händen vom Rücken die Tieres, und die Luft hielt er an um kein Wasser zu atmen. Schnell kam die Brühe näher, immer näher, er machte sich bereit zum Eintauchen – doch plötzlich blieb sein Kopf in der Luft hingen, sicher nur wenige Finger über der Wasseroberfläche. Die Hufe des Pferdes wühlten das Wasser auf, das stetig gegen sein Gesicht hämmerte. Was geschah? Was konnte geschehen sein? Wer hielt seine Füße in der Luft, wie in harten Ketten aus Eisen, die sich um seine Knöchel wanden? Er versuchte sich umzusehen, doch es war unmöglich, ohne jede Chance war er im Kampf mit dem spritzenden Wasser.

Roddy versuchte, sich irgendwo festhalten zu können, und tatsächlich konnte er die sich in die geschmeidigen Haare des Tieres krallen, die Haare, die aber jetzt hart waren und an der Haut seiner Hände rissen wie Disteln oder anderes Unkraut. Mit seinem Wenig an Kraft zog er sich wieder herauf, langsam aber stetig, mit viel Mühe und wenig Fortkommen. Doch schließlich schaffte er es gar zurück auf den Rücken des Pferdes.

Doch was er nun erblickte, das machte ihn schauern wie er sein Lebtag nicht geschauert hatte. Lange Stränge wuchsen aus dem Körper der Stute heraus, ekelerregende Fortsätze, Tentakeln oder Ranken ähnlich. Selbst aus dem Wasser lugten drei oder vier davon hervor, wanden sich heraus aus dem Naß, wurden länger und länger, kamen ihm entgegen.

Einer der langen Auswüchse legte sich um die Brust des schmächtigen Landstreichers. Zunächst sanft wie die zärtlichen Arme einer liebenden Mutter, doch stärker, immer stärker drückte die Ranke, quetschte seinen Brustkorb. Mit nur noch wenig seiner verbliebenen Kraft zehrte er daran, und als dieses nicht half, senkte der Alte seinen Kopf und biß hinein. Es war, als würde er in einen jungen Zweig hinein beißen, doch mit ekelhaftem Nachgeschmack und mit weitaus größerem Durchmesser, als junge Zweige normalerweise haben. Kein Erfolg war ihm so beschienen, sein unheimlicher Feind trotzte seinen Versuchen und Bemühungen.

Keine Ähnlichkeit waren da mehr mit dem Pferd, das er gefunden hatte. Der Kopf hatte sich nun gewandelt zu einer schleimigen schwarzen Masse, einer Masse, die jetzt den ganzen Körper des Wesens zu bilden schien, die selbst durch die nasse Kleidung noch kalt und ekelerregend zu spüren war. Aus allen Seiten dieser verfaulenden Kreatur kamen die langen Fortsätze wie Würmer aus dem Körper eines verwesenden Tieres. Schon packten weitere Ranken den sich windenden Landstreichers, daß er seine Beine keinen Deut mehr bewegen mochte.

Doch wie durch ein Wunder, eine glückliche Fügung des Schicksals, waren seine Arme und Hände freigeblieben, während seine Brustknochen beinahe barsten unter dem Druck des größten Fortsatzes, den das – Wesen – hatte. Seine Befreiungsversuche, mehr durch eine sein Hirn wie ein Echo durchfahrende Hoffnungslosigkeit als durch den irrsinnigen Schmerz beinahe erlahmt, seine Befreiungsversuche fanden schließlich neue Nahrung, als, ja als seine linke Hand an das Messer stießen, das alte, das rostige Messer, beinahe so alt wie er selbst und in noch schlechterem Zustand.

Mit einem Funken, dann einem großen Leuchten neuer Hoffnung riß er das Metall, nur durch den Rost noch zusammengehalten, aus der vergammelnden, verfaulenden Scheide, kurz bevor ein weiterer Tentakel sich um seine Hüfte legte. Da brach das an den langen Fortsätzen verbliebene schwarze Fell, und darunter kam das Grün einer Pflanze zum Vorschein. Nicht das Grün von Rosenstöcken oder von Tulpenstengeln, sondern das dunkle, unnatürliche Grün einer Pflanze, die nicht nur verfault war, sondern schon längst hätte Staub sein müssen.

Er umklammerte das Messer fest und unnachgiebig, dann stach er zu. Mit der ganzen Wut und der größten Wucht, die er je hatte vollbringen können, stieß es in die große Ranke, die ihn quetschte, die sogar sein Herz zerdrücken wollte. Tief drang sie ein, die Klinge, so tief, daß das Wesen einen solchen Schmerz erfuhr, daß es sich schon zurückziehen wollte von dem, der diese große Pein bereitet hatte. Doch nur kurze Dauer hatte dieses, und dann kamen die Ranken stärker um ihn, als wollten sie ihm ein noch schnelleres Ende bereiten, als hätte sie das Messer nicht verwundet, sondern nur die maßlose, irre Wut entfacht.

Roddy riß das Messer heraus aus dem Tentakel – es brach nicht – er stieß es hinein, einmal, zweimal, ein drittes Mal sogar, große Wunden riß die Klinge, und jedesmal durchlief ein Zucken den unheimlichen Angreifer, jedes Mal dauerte es einen winzigen Augenblick, ein Blinzeln, es schien zu ermatten – doch jedesmal zog es noch stärker zu, die Wut entfachte sich zur Unendlichkeit.

Da wandte sich das Glück ab, denn als der Mann das Messer zu ziehen begann, da brach das metallene Gut, die Klinge steckte im Tentakel, nur der Knauf war noch in seiner Hand. Ungläubig schaute er darauf, auf die kümmerlichen Reste einer schon kümmerlichen Waffe. Er bemerkte kaum, daß das Wasser über ihn kam, bemerkte wenig davon, daß der monströse Körper zu sinken begann, auf den nahen und doch so weiten Grund des Sees hin.

Noch immer hatte er seine Hände frei, und verzweifelt, verzweifelt und erfolglos machte er die Bewegungen eines Ertrinkenden, der sich noch zu befreien versucht aus einem nassen Grab, ohne zu wissen, ohne die Erfahrung des Schwimmens je gemacht zu haben. Natürlich schaffte er nicht, seinen Kopf vom eisigen Naß zu befreien, selbst seine Hände konnte er gerade eben zur Luft durchstoßen, doch Hände können nicht atmen. Selbst wenn er das Wasser hätte verlassen dürfen, die Luft hätte nie seine Lungen erreichen können, denn die Kreatur des Grauens schnürte seine Brust mit eiserner Klammer. Vor seinen geschlossenen Augen zeigten sich Tausende und Abertausende von Sternen, die dort explodierten, während sein Ohren ihm glauben machten, er würde es Knacken hören, als würde er hören, wie seine Wirbel bersten.

Wie eine bleierne Barriere trennte ihn das Wasser von der kostbaren Luft. Seine Lippen verweigerten seine Befehle, sie öffneten sich im verzweifelten Versuch zu atmen – doch Wasser war es, nicht Luft, das in seine Kehle eindrang. Dann kam auch dieses nicht mehr, denn eine gräßlich grüne Schlinge legte sich um seinen Hals, seine Luftröhre schloß sich, für immer zerquetscht, während das Licht vor seinen Augen erlosch.

Vier Tage später fanden sie in dem friedlichen blauen Weiher die schrecklich zugerichtete Leiche eines kleinen, alten Manns. Es sollte nur die erste sein.

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